Das Puppenhaus

Publiziert am: 10. Dezember 2020 von Jenny Sterchi

Der Schnee wirbelte durch die Luft. Es war bitterkalt. Die Menschen hatten die Mützen tief ins Gesicht gezogen und sich in dicke Mäntel gehüllt. Aber zum Daheimbleiben war
noch keine Zeit. Geschenke und feine Sachen zum Essen mussten besorgt werden. Und so drängten sich die Kunden in den Geschäften und kauften lieber noch ein Geschenk
mehr, zur Sicherheit, falls das andere nicht gefallen würde. Und Verkäufer rieben sich die Hände, das erhoffte Weihnachtsgeschäft schien aufzugehen. Nur in einem Geschäft fand sich nur selten ein Kunde ein. Ein älterer Herr stand hinter einem antiken Verkaufstisch.

Die Einrichtung des gesamten Ladens war etwas in die Jahre gekommen. Und ebenso finster wie das Holz der Regale war die Miene des Verkäufers. Er hatte die verschiedensten Spielwaren im Angebot. Farbige Holzeisenbahnen, lustige Handpuppen, Brettspiele waren ebenso ausgestellt wie ein Kasperlitheater mit einem echten, rotweiss gestreiften Vorhang und ein Kaufmannsladen mit einer Waage, kleinen Einkaufskörben und einer Kasse voller Spielgeld. In einem Puppenwagen mit riesigen Rädern lag eine zauberhafte Puppe mit blonden langen Haaren und einem Gesicht aus feinstem Porzellan. Im Schaufenster sassen zwei grosse Teddybären neben einem Puppenhaus, in dem jeder Raum sorgfältig eingerichtet war und sogar Licht brannte. Den Passanten, die interessiert davor stehen blieben, verging die Lust auf einen Besuch in diesem Spielzeuggeschäft gründlich, sobald sie den grimmig dreinschauenden Verkäufer hinter dem Schaufenster erblickten. Sein Gesicht blieb regungslos, kein Wort des Grusses, keine Handbewegung. Er unternahm nichts, was die Menschen zum Eintreten bewogen hätte.

Und doch öffnete ein junger Mann die Tür des Ladens. Er trat ein, war ausser Atem, setzte seine Mütze ab und reichte dem Verkäufer erwartungsvoll die Hand zum Gruss. Verdutzt drückte der alte Spielwarenverkäufer die ihm entgegengestreckte Hand. «Sie sind meine Rettung», jubelte der Kunde, nachdem er etwas ausgeruht hatte. «Ich bin seit geschlagenen sechs Stunden unterwegs auf der Suche nach einem Puppenhaus, wie es bei Ihnen im Schaufenster steht.» Und als hätte er den unfreundlichen Ausdruck im Gesicht des Verkäufers gar nicht mitbekommen, fuhr er unbeirrt fort: «Ich habe viele Puppenhäuser gezeigt bekommen. Entweder waren sie aus Plastik, zum Zusammenbauen oder mit Möbeln, die an die Wände gezeichnet waren. Dazu Puppen, die eher zum Fürchten aussahen, als dass sie Kinderaugen zum Leuchten bringen.»

«Das Leuchten der Kinderaugen findet doch schon lange nicht mehr statt, ausser wenn sich der Bildschirm der Playstation darin spiegelt», murmelte der Verkäufer verbittert. Und erst jetzt schien der Kunde die üble Laune des Verkäufers zu bemerken. «Das mag sein», entgegnete der junge Mann: «Aber die Augen meines Patenkindes bringt genau solch ein Puppenhaus zum Leuchten, wie es bei Ihnen im Schaufenster steht.» Aufmunternd zwinkerte er dem alten Mann zu: «Glauben Sie mir, die Sachen in Ihrem Laden stehen auch heute noch auf den Wunschzetteln der Kinder. Man muss ihnen nur genau zuhören. Und ich werde vermutlich auch mit meinem Patenkind und ihrem neuen Puppenhaus spielen dürfen. Besser kann ich doch die Zeit mit der Kleinen nicht verbringen.» Der Verkäufer war entwaffnet und seinem letzten Einwand, dass nur ganz wenige Kinder das «altmodische» Spielzeug wünschten, begegnete der stolze Puppenhausbesitzer fast herausfordernd. «Denken Sie nicht über das nach, was die anderen im Angebot haben. Freuen Sie sich an dem, was Sie verkaufen. Dann wird es einfacher, zu lächeln. Und das ist es, was Ihnen die Menschen in Ihr Geschäft bringt.» Er zahlte, trug das in Seidenpapier eingeschlagene Puppenhaus zur Tür hinaus und der Verkäufer hielt ihm die Türe auf. «Frohe Weihnachten» rief er dem jungen Mann nach und schloss die Tür leise lächelnd.