Der Barbarazweig

Publiziert am: 22. Januar 2021 von Jenny Sterchi

Es schneite und schneite. Dicke Flocken schwangen sich in die Lüfte, getrieben von einem eisigen Wind. Elena war froh, dass es nur noch ein paar Schritte bis zur Haustüre waren. Drinnen warteten eine wohlig warme Stube und ein schnurrender Kater auf sie. Sie war in Gedanken schon bei der Tasse Kakao, die sie sich gleich machen würde als sie vergeblich nach dem Hausschlüssel suchte. Sie griff zuerst sicher in die Jackentasche - nichts. Etwas nervöser kramte sie in all ihren Hosentaschen - vergeblich. Und dann ... oh nein, der Schlüssel hing am Haken. In der Wohnung. Sie begann zu schimpfen. Sie war so aufgebracht, dass ihr sogar ein Fluch über die Lippen kam. Gerade da stand der alte Herr Kramer im Treppenhaus, um zu sehen, was das wohl für ein Lärm sei da draußen. Elena rannen Tränen der Wut über die Wangen. «Na, na, wer wird denn da so fluchen, ausgerechnet am Barbaratag», sagte er mit einem sehr freundlichen Gesicht. «Was? Wieso Barbara? Welche Barbara?», entgegnete Elena leicht verwirrt. Rudi Kramer schaute die junge Frau fragend an. «Was denn, sie kennen den Barbaratag nicht?» Sie schüttelte den Kopf. «Nein, nie gehört», reagierte sie etwas unsicher und hielt ihr Telefon in der Hand, um den Schlüsseldienst anzurufen. «Oh, dann sollte ich ihnen unbedingt davon erzählen», sagte der Nachbar und war selbst überrascht von seiner Spontaneität. Gerade wollte er sich für seinen forschen Auftritt entschuldigen, da wandte sich die junge Frau zu ihm um, sah ihn mit grossen Augen an und sagte: «Ja, erzählen sie mir davon.»

«Der vierte Dezember ist der Tag der heiligen Barbara. Nach alten Überlieferungen wollte jene Barbara gegen den Willen ihres Vaters Nonne werden. Das machte den Vater so wütend, dass er seine Tochter verfolgte und in Gefangenschaft brachte.» Elena musste ihn unterbrechen: «Was für eine traurige Geschichte. Das ist nicht, was ich in diesem Augenblick brauche». Und sie klang fast ein wenig vorwurfsvoll. «Auf dem Weg in die Gefangenschaft blieb sie der Sage nach mit ihrem Kleid an den Zweigen eines Kirschbaumes hängen», fuhr der alte Herr Kramer unbeirrt fort. «Sie nahm die abgebrochenen Zweige mit und stellte sie in das Wasser, welches man ihr zum Trinken in die Zelle gestellt hatte. Drei Wochen später, als Barbara schon nicht mehr am Leben war, blühten die Zweige und gaben den Menschen Grund zur Hoffnung.» Elena schaute Herrn Kramer ungläubig an. «Zum Gedenken an die heilige Barbara und ihren Mut schneidet man noch heute Anfang Dezember Zweige vom Kirschbaum, stellt sie in eine Vase und hat am Weihnachtsabend einen blühenden Strauss in der Stube. Damit holt man sich die Hoffnung und Zuversicht, dass auf einen kalten, dunklen Winter ein heller, blühender Frühling folgt.»
Elena starrte aus dem Fenster des Treppenhauses in den kahlen Vorgarten und fragte: «Und sie glauben, das funktioniert wirklich?»

«Ob ich das glaube? Nein, ich weiss es», entgegnete der alte Mann voller Begeisterung. Immer noch gedankenversunken schaute sie auf die verschneiten Sträucher vor dem Haus. Dann richtete sie ihren Blick auf Herrn Kramer: «Haben sie heut schon Barbarazweige geschnitten?» Herr Kramer sah sie überrascht an und räusperte sich, bevor er antworten konnte. «Nun ich hätte es längst erledigt, aber bei diesem Wetter getraue ich mich nicht hinaus. Wissen sie, wenn ich ausrutsche und falle, was bleibt mir dann noch.»

«Ich könnte ihnen die Zweige schneiden», bot sie ihm unvermittelt an. «Oder noch besser, wir gehen zusammen hinaus. Ich werde sie halten und sie sagen mir, welche Zweige ich schneiden soll», sprühte Elena jetzt vor Begeisterung.

Und so kam es schliesslich, dass die junge Frau und der alte Herr Kramer gemeinsam durch den Schnee stapften, die Winterlandschaft im Vorgarten bestaunten und voller Vorfreude Kirschzweige schnitten.

Dem Mann vom Schlüsseldienst drückte Elena einen der kahlen Zweige in die Hand, nachdem er die Haustür geöffnet hatte. Er sah sie verständnislos an: «Was soll ich damit?»

«Na, heute ist doch Barbaratag», gab Elena zur Antwort. «Ach, sie kennen die Geschichte vom Barbarazweig nicht?», sprach sie weiter. «Gehen sie doch zu Herrn Kramer. Er kennt die ganze Geschichte.» Sie zwinkerte ihm zu und verschwand mit einer Handvoll Kirschzweige und sehr zufrieden in ihrer Wohnung.